25.10.2001, Alter Wartessal, Köln
MITTERNACHTSSPITZEN

23 Uhr. Um diese Zeit gähnen tagsüber hart arbeitende Leute herzhaft und begeben sich so langsam ins Bett. Warum eigentlich nicht wir? Unser Wecker klingelt uns jeden Morgen sehr früh heraus, aber anstatt auf unser jammerndes Schlafdefizit zu achten, oder einen Blick auf unsere dunklen Augenränder zu werfen, setzten wir uns an diesem Abend nach einem kräftigen Cappuccino ins Auto und fuhren zum Kölner Hauptbahnhof, wo die WDR-Sendung ‘Mitternachtsspitzen’ um 23 Uhr begann. Schon eine Stunde vorher stand ein großer Pulk Besucher vor der Eingangstüre, denn wer gut sitzen wollte, mußte früh genug da sein. ‘Gut’ war für manche Besucher ein Platz direkt vor den Kameras, andere wollten lieber möglichst weit davon entfernt bleiben.

Karten für die Mitternachtsspitzen sind immer heißbegehrt und viele vorbeikommende Passanten fragten, wo man sie bekommen kann. Sie wurden auf die Verkaufsstelle am Neumarkt hingewiesen und bekamen gleich den Tipp: “Sie müssen sich aber spätestens um 7 Uhr morgens anstellen, oder besser noch am Abend vorher!” Eine erfahrene Mitternachtsspitzen-Besucherin behauptete: “99% der Karten gehen an die Leute vom WDR, die restlichen 30 oder 40% sind doof und stellen sich an.” Interessanter Satz, interessante Rechnung. 

Etwas nach 22 Uhr begann der Einlaß und keine 10 Minuten später hatten sich die Zuschauer im Alten Wartesaal verteilt, saßen auf Bierbänken oder standen an hohen Biertischen und tranken das erste Kölsch. Eine Dreiviertelstunde später sollte die Live-Sendung beginnen und es war keinerlei Hektik zu spüren, sondern ging zu wie in einem sommerlichen Biergarten. Da wir schon früher mal die ‘Mitternachtsspitzen’ besucht hatten, wußten wir einigermaßen was auf uns zukam und hatten uns schöne Plätze ausgesucht. Nicht neben den Bühnen und nicht in den ersten beiden Reihen, wo immer die Gefahr einer Nahaufnahme bestand, sondern auf den Bierbänken dahinter, wo man gut sehen konnte, aber höchstens mal im Hintergrund auf’s Bild kam. Es bedeutet für mich nämlich Streß bei einer Fernsehaufzeichnung zu sein und dann zu merken, wie einen Meter vor mir eine Kamera direkt auf mich gerichtet wird, Objektiv und Kabelhilfe mich minutenlang anstarren, ein Aufhellspot in meine Augen strahlt, plötzlich das Rotlicht an der Kamera aufleuchtet - und ich so tun soll, als ob ich das alles nicht mitkriege und weiterhin völlig locker und natürlich lachend dem Programm folgen muß. In diesem Moment in die Kamera zu gucken ist ziemlich blöd, winken völlig out und bei einem richtig guten Gag vor lauter Streß nicht mitzulachen, fällt unangenehm auf.

Kurz vor 23 Uhr kam Jürgen Becker auf die Bühne, unterbrach die lauten Biergarten- Unterhaltungen und machte mit seinen einleitenden Bemerkungen gute Laune. Er wies auf die Feuerwehrleute hin “Wenn es bei Ihnen brennt, sagen Sie den beiden bitte Bescheid!” und erklärte den Weg zum Klo “Auf dem Rückweg nicht hier raus, sonst stehen Sie mitten auf der Bühne und müssen eine Nummer machen!” Noch kurz die Fluchtwege erklärt und ein paar Bemerkungen über das freiwillige Klatschen und Lachen, dann ging er zum Eingang, wartete den live über den Bildschirm flimmernden Vorspann ab, und es ging mit Applaus und seinem Eintreten in den Alten Wartesaal los.

Liveübertragungen finde ich immer sehr klasse. Es liegt eine Anspannung im Raum, die bei Aufzeichnungen nicht so stark zu spüren ist, denn die Sendung soll natürlich möglichst ohne Pannen ablaufen. Große Kameras, Handkameras und viele Kabelhilfen bewegen sich fast lautlos durch den Raum, versuchen sich gegenseitig nicht ins Bild zu bekommen und die Kameraleute erhalten ständig von der Regie über Kopfhörer ihre Anweisungen. Die Texte der auftretenden Künstler laufen über den Teleprompter und wenn die Kamera günstig steht, kann man sie mitlesen, was ich jedesmal mache, obwohl es ja irgendwie Quatsch ist. Dass der Kurzauftritt oder die Zwischenmoderation dem Ende zugeht, merkt man daran, dass die meisten Kameras plötzlich mitten im Satz abziehen und am anderen Ende des Raumes vor dem nächsten Gast in Stellung gehen. Das gibt zwar ganz nahtlose Übergänge, ich finde es aber trotzdem irgendwie traurig für den Künstler. Zuerst viele Kameras und sogar eine Fotografin ganz eifrig drumherum, er kann sich wirklich im Mittelpunkt des Geschehens fühlen, dann das ganz abrupt nachlassende Interesse mitten im Satz, die Presse wendet sich fast komplett ab und nach den letzten Worten drehen sich auch die beiden übriggebliebenen Kameras sofort weg, er versinkt im Dunkeln und geht leise und allein hinter den Vorhang ab, während die Zuschauer alle in die andere Richtung blicken. *schnief*

Ob traurig oder nicht, alles war sehr spannend, überall war etwas los, manchmal konnte man nur über die Monitore was sehen, weil so viele Kameras vor dem eigentlichen Geschehen aufgebaut waren, und während links der nächste Künstler auf Zehenspitzen zu seinem Auftrittsort schlich, rechts die Bühne freigeräumt wurde, wunderte ich mich über die unglaublich vielen Leute, die auf’s Klo mussten! Hey!! Die Sendung dauerte nur 60 Minuten! Das halten sogar meine Kinder aus! Muß man bei starker Inkontinenz unbedingt in eine Live-Sendung gehen? Oder hatte sich an diesem Abend eine große Gruppe Harndranggeschädigter getroffen, um einen gemeinsamen Abend zu verbringen? Es war einfach unglaublich. Immerhin tauchte keiner auf dem Rückweg überraschend auf der Bühne auf und brachte ‘eine Nummer’. Obwohl - wär vielleicht auch ganz nett gewesen...

Neben Jürgen Becker, der wie immer durch die Sendung führte, waren da: Die ‘Acapickels’, das schräge Frauen-Quartett aus der Schweiz, Mathias Deutschmann mit Cello, Frank-Markus Barwasser als bayerischer Biedermann ‘Erwin Pelzig’, der Frührenter Herbert Knebel mit Problemen beim ‘Homopath’. “Watt soll ich zum schwulen Arzt gehen?” und das bissige Paar Spitz & Spitz, für das “persönlich alles uninteressant ist.” Schwerpunktthema bei den meisten natürlich Afghanistan und die USA, wobei manche Sätze ziemlich hart ausfielen und manches Zuschauerlachen schon von entsetzem Luftschnappen begleitet war. Aber Kabarett muß manchmal einen Schritt zu weit gehen und richtig zubeißen, auch wenn einem das Lachen im Hals stecken bleiben kann. In der Mischung mit lockeren, lustigen Comedybeiträgen ist das genau richtig. Am Ende des Abends wie immer Wilfried Schmickler, der mit “Aufhören, Herr Becker, aaauuuufhöööören!!” begann, und dann wieder ein wahres Wortfeuerwerk losließ. So schnell konnte ich auf dem Teleprompter kaum mitlesen! Und dabei lief er noch quer durch den Raum, blickte zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Kamera und ließ dabei ungeheuerliche Sachen los. Klasse!

Pünktlich um Mitternacht war alles geschafft, und während im Fernseher schon das Endbild ausgeblendet wurde, standen die Künstler noch alle auf der Bühne, verbeugten sich, winkten ins Publikum und freuten sich über den gelungenen Abend. Die Kameras wurden abgeschaltet, das Licht heruntergefahren und ich freute mich, dass ich dabeigewesen war. Live dabei macht ja noch mehr Spaß als im Fernsehen zu gucken! Im Fernsehen sehe ich mir in den nächsten Tagen die Wiederholung an, um auch die Sachen  mitzubekommen, bei denen genau vor mir eine Kamera stand. Auch wenn mir dann der Teleprompter-Text ein wenig fehlen wird.....

Als wir zu Hause waren, hatten wir noch 4 1/2 Stunden Schlaf bis zum Weckerklingeln. Immerhin. War doch gar nicht so schlecht! Und der Abend hatte sich sehr gelohnt!

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